Berlin: Heute, am 20. Mai, ist es soweit. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages stimmen über den Gesetzentwurf für ein Barrierefreiheitsstärkungsgesetz und damit verbundene Änderungsanträge ab. Zudem steht ein Antrag der Grünen zur umfassenden Barrierefreiheit zur Abstimmung. Da die sicherlich sehenswerte Debatte derzeit von 22:50 bis 23:30 Uhr im Bundestagsplenum terminiert ist und es häufig noch zu Verschiebungen nach hinten kommt, bleibt die Frage offen, ob die Debatte und die Beschlüsse zu einer Sternstunde oder zu einer Geisterstunde des Parlaments in Sachen Barrierefreiheit wird. Der schwache Gesetzentwurf und die minimalen Änderungen im Antrag der CDU/CSU und SPD Fraktion deuten nach Ansicht vieler Akteur*innen allerdings eher auf eine Geisterstunde des Parlaments hin.
Die Abgeordneten der Regierungskoalition von CDU/CSU und SPD hatten in den letzten Wochen genügend Möglichkeiten, sich über die bestehenden Probleme und den langjährigen Handlungsbedarf in Sachen Barrierefreiheit zu informieren. Bei vielfältigen Veranstaltungen zum Europäischen Protesttag zur Gleichstellung behinderter Menschen wurde über Barrieren aufgeklärt und Lösungen für die Gesetzgebung aufgezeigt. Das Forum behinderter Juristinnen und Juristen hat konkrete Vorschläge gemacht, wie die Verpflichtung zur Barrierefreiheit angemessen für Unternehmen geregelt werden kann. Mittels eines Online-Events am 5. Mai wurden internationale Expert*innen zu Rate gezogen, die berichteten, wie die gesetzlichen Regelungen zur Barrierefreiheit in Österreich und in Großbritannien sind. Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) hat ein gutes Erklärvideo über die Schwächen des Gesetzentwurfs produziert und verbreitet. Die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) lud Abgeordnete am 5. Mai ans Brandenburger Tor ein, um die Unsinnigkeit von barrierefreien Geldautomaten, die aber nur über Stufen erreichbar sind, aufzuzeigen. Und Dr. Sigrid Arnade und Hans-Günter Heiden vom NETZWERK ARTIKEL 3 waren über zwei Wochen lang mit dem Mehr Barrierefreiheit Wagen unterwegs und sprachen mit einer Vielzahl von Akteur*innen über die Notwendigkeit für ein gutes Barrierefreiheitsrecht.
Zudem haben sehr viele behinderte Menschen und ihre Verbündeten an Abgeordnete des Bundestages geschrieben bzw. in den Büros angerufen, um aufzuzeigen, was Barrieren für sie ganz konkret bedeuten. Auch in der Presse wurde immer wieder über die Forderungen der Betroffenen und die Unsinnigkeit so mancher Regelungen des Gesetzes, wie die langen Übergangsfristen bis 2040 und die Nichtberücksichtigung des Umfelds von Terminals, berichtet.
So fragen sich viele Akteur*innen für eine barrierefreie und damit inklusive Gesellschaft am heutigen 20. Mai, was sie denn sonst noch hätten tun sollen, um die Abgeordneten von CDU/CSU und SPD dazu zu bringen, sich auf die Seite der Diskriminierten statt auf die der Diskriminierer zu stellen. Mini Trippelschritte zu mehr Barrierefreiheit lassen sich vielleicht nett in Debatten verkaufen und das große Problem durch vermeintlichen Aktionismus, späte Debatten und noch draufgesattelte andere Themen verschleiern, für die Lebensrealität behinderter Menschen verändern sie aber viel zu wenig und das viel zu spät. Wenn blinde Menschen, die sich heute engagieren, ein stolzes Alter von 80 Jahren erreichen müssen, um dann ihren Geldautomaten barrierefrei nutzen zu können, weil der erst 2040 barrierefrei sein muss, ist das wie Hohn, wie viele Aktive kopfschüttelnd bekunden. Und Rollstuhlnutzer*innen bzw. gehbehinderte Menschen haben immer noch gar keine Perspektive, wann die vielen Barrieren an Geschäften, Kneipen, Kinos etc. in ihrer Nachbarschaft überhaupt fallen sollen.
Im Lichte dieser Gemengenlage darf man also gespannt darauf sein, wie die sogenannten Behindertenbeauftragten von CDU/CSU und SPD heute die minimalen Erfolge verkaufen und behinderte Menschen wieder einmal auf weitere Schritte vertrösten werden – vielleicht in der nächsten Legislaturperiode oder der übernächsten. Die Opposition wird sich empören – und das ist auch gut so. Aber am Ende wird es nicht viel nützen, denn an den Änderungsanträgen und dem Abstimmungsvotum des Ausschusses für Arbeit und Soziales wird sich wohl nichts mehr ändern. Und diese Voten sind schlichtweg mutlos und schwach, wie es beispielsweise der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband treffend kritisiert hat. Und leider wird sich die Hoffnung von Dr. Sigrid Arnade von der LIGA Selbstvertretung auch nicht erfüllen, dass zukünftig auch in anderen gesetzlichen Bereichen, wie bei der Barrierefreiheit auf bloße Überzeugung und Bewusstseinsbildung gesetzt wird, so dass sie nach eigenem Ermessen entscheiden kann, wo sie ihr Auto parkt und wie schnell sie fährt. Dieses Überzeugungsprinzip wäre auch für die Steuergesetzgebung interessant, aber so etwas gibt es ja nur in der deutschen Behindertenpolitik, wie so manche mittlerweile frustrierte Aktive für Barrierefreiheit feststellen müssen.
Wären wir nicht inmitten der besonders für viele behinderte Menschen äusserst gefährlichen Corona-Pandemie, würde der Behindertenbewegung sicherlich einiges einfallen, wie man die heutige Debatte zu nachtschlafender Zeit öffentlichkeitswirksam am Reichstag begleiten könnte. Aber auch das würde jetzt wohl nichts mehr nützen und eher zum Frustabbau beitragen. Aber auch das ist wichtig, denn nach dem Spiel ist vor dem Spiel und die Bundestagswahlen stehen vor der Tür.
Wer also einen Live-Eindruck vom Stand der behindertenpolitischen Diskussion und über das konkrete politische Handeln der Regierungskoalition im Jahr 13 nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland bekommen will, sollte sich die 40 Minuten Zeit nehmen und die Debatte und Abstimmung im Deutschen Bundestag anschauen, bzw. diese sich später in der Mediathek zu Gemüte führen. Der derzeit terminierte Zeitpunkt für die Debatte von 22:50 bis 23:30 Uhr kann sich dabei wahrscheinlich noch nach hinten verschieben, so dass ein Blick auf die aktualisierte Tagesordnung des Bundestagsplenums lohnt:
Link zur Tagesordnung des Plenums des Deutschen Bundestages vom 19. bis 21. Mai
Link zu weiteren Informationen zum Gesetzgebungsverfahren zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz