Kassel: Am 18. März hat ein Bündnis von Behindertenorganisationen damit begonnen, täglich daran zu erinnern, wieviel Tage den Bundestagsabgeordneten noch bis zur letzten regulären Bundestagssitzung in dieser Legislaturperiode am 25. Juni verbleiben, um ein gutes Barrierefreiheitsrecht zu verabschieden. Heute, am 28. März, da es nur noch 90 Tage sind, blickt Ottmar Miles-Paul auf die bisherigen Aktivitäten der Kampagne zurück und darauf, welche Zeichen es dazu bisher von der Politik gibt. Zudem greift er einige Tipps auf, was getan werden kann, um den politischen Druck auf die Abgeordneten zu erhöhen.
Bericht von Ottmar Miles-Paul
Langsam aber sicher nimmt die Kampagne für ein gutes Barrierefreiheitsrecht Fahrt auf.
Ein breites Bündnis von Behindertenorganisationen unterstützt die Kernpunkte für ein gutes Barrierefreiheitsrecht und täglich werden es mehr Einzelpersonen und Organisationen, die sich auf der Kampagnenseite als Unterstützer*innen eintragen.
Das Forum behinderter Jurist*innen und Juristen hat einen an die österreichischen Regelungen angelehnten Vorschlag entwickelt, wie auch private Anbieter von Dienstleistungen und Produkten zur Barrierefreiheit bzw. zu angemessenen Vorkehrungen verpflichtet werden können, ohne dabei in den Ruin getrieben oder überfordert zu werden. Bisher wurde noch von keinem angeschriebenen Abgeordneten dargelegt, warum dies nicht auch in Deutschland möglich sein sollte, außer dem üblichen Argument, man dürfe die Wirtschaft nicht überlasten. Ganz im Gegenteil: Fachleute betonen immer wieder, dass Barrierefreiheit zum Standard werden muss.
Behinderte Menschen können viele Beispiele anführen, wo sie im Alltag benachteiligt werden. Der ehemalige Landesbehindertenbeauftragte von Bremen und heutige Vorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe Bremen, Dr. Joachim Steinbrück, hat eindrucksvoll geschildert, was es heißt, ständig am digitalen Katzentisch sitzen zu müssen, und wie mühsam es ist, sich auf der Basis der bisher schwachen Gesetzeslage dagegen zu wehren.
Mittlerweile liegt auch ein Gesetzentwurf der Bundesregierung für das sogenannte Barrierefreiheitsstärkungsgesetz vor, das am 24. März vom Bundeskabinett verabschiedet wurde. Nun kann dieses noch in dieser Legislaturperiode im Bundestag beraten und noch vor der Sommerpause verabschiedet werden. Die Stellungnahmen der Verbände lassen jedoch keinen Zweifel daran, dass für eine echte Stärkung der Barrierefreiheit noch sehr viel Luft nach oben ist. Die Bundesregierung beschränkt sich nämlich weitgehend auf eine 1 zu 1 Umsetzung der entsprechenden EU-Richtlinie zum European Accessibility Act (EAA). Auch wenn der Gesetzentwurf durch eine leichte Änderung des Gesetzestitels, mittels der Anlehnung der Definition von Barrierefreiheit an das Behindertengleichstellungsgesetz und mit der Aufnahme einer Schlichtungsstelle nach dem Anhörungsprozess im Bundesministerium für Arbeit und Soziales noch verbessert wurden, macht dies noch keinen Frühling. Viele Bereiche, in denen Barrierefreiheit dringend vorgeschrieben werden müsste, bleiben schlichtweg außen vor.
Und dann war da die erste behindertenpolitische Debatte des Deutschen Bundestages im diesjährgen Finale dieser Legislaturperiode mit der ersten Beratung zum Teilhabestärkungsgesetz – und das noch am 12. Jahrestag des Inkrafttretens der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland am 26. März. Diese Debatte fiel bis auf einige wenige Highlights eher kläglich aus, indem die Regierenden von CDU/CSU und SPD die vorgeschlagenen Regelungen im Teilhabestärkungsgesetz hauptsächlich lobten und nicht viele Zeichen für Veränderungen für weitere nötige Regelungen erkennen ließen. Das Thema Barrierefreiheit wurde von ihnen weitgehend ignoriert, obwohl der Vorschlag des Forums behinderter Juristinnen und Juristen systematisch gut in die ohnehin geplante Veränderungen im Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) zur Nichtdiskriminierung von Nutzer*innen von Assistenzhunden passen würde. Die Grünen und LINKEN forderten an verschiedenen Stellen klare Regelungen zur Barrierefreiheit ein. Symbolisch dafür steht das flammende Plädoyer der behindertenpolitischen Sprecherin der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Corinna Rüffer, die dem Plenum des Deutschen Bundestages zurief: „Warum findet sich keinerlei Ansatz, die Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit zu verpflichten. Das fordern alle großen Verbände. Warum passiert das nicht?“
Link zum Redebeitrag von Corinna Rüffer am 26. März 2021 im Bundestag
Der Sprecher für Inklusion und Teilhabe der Linksfraktion im Bundestag, Sören Pellmann, führte in seiner Rede u.a. aus: „Wenn ich an die letzte Pressekonferenz der Bundeskanzlerin nach der Ministerpräsidentenkonferenz denke, dort war zum Beispiel Barrierefreiheit völlig Fehlanzeige.“ Auch in Sachen umfassender Verbesserung barrierefreier Beratung bei der Bundesagentur für Arbeit, sei im Teilhabestärkungsgesetz nichts geregelt.
Link zum Redebeitrag von Sören Pellmann am 26. März 2021 im Bundestag
Wir sind nun also mitten drin im aktuellen Prozess der Gesetzgebung zur Behindertenpolitik und zur Barrierefreiheit, so dass die Uhr nun gewaltig tickt, wenn wir ein gutes Barrierefreiheitsrecht erreichen und nicht weitere 10, 15 oder gar 20 Jahre warten wollen, was die derzeitigen Fristen bei manchen Regelungen im sogenannten Barrierefreiheitsstärkungsgesetz vorsehen, bzw. wichtige Bereiche gar nicht umfassen.
Was ist nun zu tun?
Vorrangig geht es nun darum, den Abgeordneten des Deutschen Bundestages und dabei besonders denjenigen, die die Regierungskoalition stellen – also von CDU/CSU und SPD -, deutlich zu machen, dass wir eindeutige und umfassende Regelungen zur Barrierefreiheit wollen und brauchen. Und dass ihr Verhalten für unsere Entscheidung, wen wir bei der nächsten Bundestagswahl im September wählen, entscheidend sein könnte. Die Sozialhelden haben mit ihrem Projekt #Barrieren brechen bereits einen Vorschlag gemacht, wie eine E-Mail an die Abgeordneten aussehen könnte. Im Aktionsmittelpaket der Aktion Mensch zum Europäischen Protesttag zur Gleichstellung behidnerter Menschen um den 5. Mai herum, das von Organisationen bestellt werden kann, sind auch Postkarten mit dabei, die man an die Bundestagsabgeordneten mit entsprechenden Forderungen oder Fragen schicken kann. Die Aktion Mensch fördert auch Aktionen mit bis zu 5.000 Euro, die im Zeitraum vom 24. April bis zum 9. Mai durchgeführt werden. Wir sollten also keine Gelegenheit auslassen, die Abgeordneten bei Veranstaltungen, Gesprächen – vielleicht auch in deren Bürgersprechstunden -, Telefonaten etc. auf die Notwendigkeit guter und umfassender Regelungen zur Barrierefreiheit anzusprechen. In Wahlkampfzeiten wurden schon so manche gesetzlichen Regelungen erreicht, die vorher kaum denkbar waren.
Und natürlich ist auch die Öffentlichkeitsarbeit enorm wichtig. In Zeiten der Corona-Pandemie sind die sozialen Medien, wie Facebook, Twitter, Instagram etc. wichtiger denn je geworden. Wir sollten diese Instrumente also nutzen, um uns in den nun noch verbleibenden 90 Tagen massiv für ein gutes Barrierefreiheitsrecht zu Wort zu melden bzw. Beiträge zu Liken, Teilen, Retweeten und was die sozialen Medien sonst noch so hergeben. Es muss deutlich werden, dass Barrierefreiheit eben doch ein Thema ist und dass nicht nur die Wirtschaft mit ihren ewigen Bedenken gehört wird. Aktuelle Beiträge sind stets auf der Seite der kobinet-nachrichten zu finden, die dort auch entsprechend direkt geteilt werden können.
Wir brauchen auch weitere Bündnispartner*innen aus anderen über die Behindertenpolitik hinausgehenden Kreisen. Wer hier Kontakte hat, sollte versuchen, auch hier Unterstützer*innen für die Kampagne für ein gutes Barrierefreiheitsrecht zu gewinnen. Ein guter Anlass dafür könnte die Petition für ein gutes Barrierefreiheitsrecht sein, die bereits fast 40.000 Unterstützer*innen hat.
Und natürlich sind da noch die Aktionen um den 5. Mai herum in der Zeit vom 24. April bis 9. Mai, also zum Europäischen Protesttag für die Gleichstellung behinderter Menschen. Im Rahmen der Aktionen des seit 1992 durchgeführten Protesttages konnten wir immer wieder wichtige Akzente beispielsweise für die Aufnahme des Benachteiligungsverbots für behinderte Menschen im Grundgesetz 1994, für die Verabschiedung des Bundesbehindertengleichstellungsgesetzes 2002 sowie für entsprechende Landesgleichstellungsgesetze, für die Verabschiedung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, für die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention etc. etc. setzen. Warum sollen uns die Aktionen in diesem Jahr nicht auch einem guten Barrierefreiheitsrecht nicht näher bringen. Bei der Aktion Mensch sind bereits über 300 Anträge für coronabedingt meist digitale Aktionen um den 5. Mai herum eingegangen. Am 5. Mai wird AbilityWatch eine Livesendung mit verschiedenen Akteur*innen ausstrahlen. Und das NETZWERK Artikel 3 wird mit dem „Mehr Barrierefreiheit Wagen“ auf Tour gehen und für die Verabschiedung eines gutes Barrierefreiheitsgesetz in verschiedenen Regionen und bei verschiedenen Abgeordneten des Deutschen Bundestages werben. Jede*r kann also in den nächsten Wochen einen Beitrag leisten, um die Forderung nach einem guten Barrierefreiheitsrecht zu bekräftigen.
Packen wir’s an! Heute, am 28. März, verbleiben den Bundestagsabgeordneten und somit auch uns noch 90 Tage für ein gutes Barrierefreiheitsrecht